Marie Kurstjens

Design auf Augenhöhe – Interview mit Marie Kurstjens
Marie Kurstjens von der Universität der Künste Berlin versteht Design als kollaborativen Prozess, um soziale und humanitäre Herausforderungen zu bewältigen. In ihren Projekten COOK/ABILITY und Designing Dignity verbindet sie Empathie mit Funktionalität und gestaltet Lösungen, die auf Gemeinschaft und Würde setzen. Dafür wurde sie von der Jury des German Design Award 2026 zur Finalistin unter den Newcomern nominiert. Im Interview spricht sie darüber, was passiert, wenn Design nicht für Menschen entsteht – sondern gemeinsam mit ihnen.
Marie, wie lässt du Gestaltung in einem gemeinschaftlichen Prozess entstehen?
Für mich ist Gestaltung ein kollektiver Prozess. Zu Beginn eines jeden Projekts stelle ich mir deshalb die Fragen: Wer könnten beteiligte Stakeholder*innen sein? Wessen Wissen ist entscheidend – und mit welchen Expert*innen kann gemeinsam an Lösungen gearbeitet werden? Nur, wenn echte Lebensrealitäten im Fokus stehen, kann Gestaltung relevant, kulturell sensibel und empowernd sein. Auf dieser Grundlage beginne ich, ein Netzwerk aufzubauen. Hier spielen Teilhabe und Vertrauen eine wichtige Rolle.
Was bedeutet Teilhabe für dich im Kontext von Social Design?
Aus meiner Sicht ist Teilhabe das Herzstück im Social Design. Hier geht es darum, Projekte zu entwickeln, die dem Vorsatz „Made for the people, by the people“ folgen – Individuen also als Mitgestalter*innen zu verstehen. Teilhabe ist für mich kein Beiwerk, sondern eine Haltung: Sie bedeutet, Verantwortung abzugeben, zuzuhören und Raum für andere Stimmen zu schaffen. Gerade in sensiblen Kontexten – wie etwa der Menstruationsgerechtigkeit im Fluchtkontext – ist Teilhabe die Voraussetzung für einen nachhaltigen und würdevollen Gestaltungsansatz. Design wird darüber zu einem Werkzeug sozialer Gerechtigkeit und Selbstbestimmung.
Wie beeinflusst der Austausch mit einer Community deine Gestaltung?
Meine Arbeit könnte mit einer Übersetzung verglichen werden. Als Gestalterin transkribiere ich die Bedürfnisse einer Gruppe in greifbare Produkte oder Systeme. Welche Richtung ein Projekt einschlägt und welche Funktionen es erfüllen muss, hängt dabei stark von den Erfahrungen und Bedürfnissen jener Community ab, mit der ich zusammenarbeite. Damit ein Produkt oder System gesellschaftlich akzeptiert und tatsächlich genutzt wird, kommt es letztlich aber auf dessen Ästhetik an. Hier greife ich auf meine Expertise zurück.
Wie formt kulturelle Vielfalt dein Verständnis von Inklusion im Design?
Mir ist wichtig, nicht ausschließlich aus einer westlich geprägten Sicht zu gestalten, sondern zu verstehen, was in einem bestimmten Kontext funktional und emotional Sinn ergibt. Dabei hinterfrage ich meine eigenen Privilegien und blinden Flecken. In meinem Projekt Designing Dignity habe ich gelernt, dass jede Kultur eigene Vorstellungen von Körper, Intimität und Gemeinschaft hat – etwa im Umgang mit Menstruation, der zeigt, wie stark kulturelle Prägungen unser Verhalten und unsere Sprache beeinflussen. Auch in Cook/Ability, einem Projekt mit Menschen mit Tetraplegie, wurde mir bewusst, wie unterschiedlich Lebensrealitäten und Zugang zu Ressourcen sein können. Kulturelle Perspektiven erweitern meinen Blick: Sie fordern mich heraus, Gewohntes zu hinterfragen, und erinnern mich daran, dass Inklusion bedeutet, Vielfalt gleichberechtigt bestehen zu lassen. Gestaltung ist für mich deshalb auch Übersetzungsarbeit – zwischen Kulturen, Bedürfnissen und Empfindungen.
Was müsste sich verändern, damit Social Design fester Bestandteil der Designpraxis wird?
Es muss ein Verständnis dafür entstehen, was Gestaltung im sozialen Feld leisten kann – und wie viel Veränderung darin steckt. Noch immer wird Design häufig als ästhetische oder marktorientierte Disziplin verstanden, dabei kann es Strukturen sichtbar machen, soziale Realitäten verändern und Selbstbestimmung fördern. Social Design sollte kein Sonderfall sein, sondern ein selbstverständlicher Teil unserer Praxis. Dafür müssen Ausbildung, Forschung und Wirtschaft interdisziplinärer denken – im Austausch mit Sozialwissenschaften, Aktivismus und Politik. Design darf nicht nur Probleme lösen, sondern muss lernen, Fragen zu stellen: kritisch, empathisch und gemeinsam mit den Menschen, die betroffen sind. Wenn das gelingt, wird Social Design unsere Verantwortung als Designer*innen im Kern ausmachen.
















